Gut genug ist perfekt!
Gut genug ist Perfekt

Vor ein paar Jahren gestaltete eine Mitarbeiterin den Einstieg in die Teamsitzung. Sie gab dem Team die Aufgabe, Eigenschaften einer perfekten Mutter zusammenzutragen. Dies, so meinte sie, könnte uns in der Förderung der Mütter eine Hilfe sein. Der Gedanke dahinter war, ein einheitliches Bild zu erschaffen, welches uns als orientierung in der Anleitung der Mütter dienen wird. 

 

Noch bevor das Team dazu kam, die Eigen- schaften der perfekten Mutter zu sammeln, unterbrach ich diesen Einstieg. Nie zuvor oder danach sah ich mich veranlasst, einen Einstieg eines Teammitgliedes zu unterbrechen. Diesmal war es anders. Ich tat es nicht gerne, aber ich erachtete es als wichtig: Ich wollte mit unserem Team nicht in eine Falle tappen.

 

Ein schrecklicher Gedanke 

Ich wusste, dass jede Frau, wenn sie am Bild einer perfekten Mutter gemessen würde, versagt. Sie hat verloren, bevor der Vergleich beginnt. 

Niemand ist perfekt. 

Auch eine Mutter muss nicht perfekt sein. 

Um ein Kind zu lieben, es zu versorgen, zu beschützen, zu fördern und zu erziehen, braucht es keinen Perfektionismus. 

Wie wäre es für eine Frau im Elim, wenn sie sich jeden Tag an dem Bild der perfekten Mutter messen müsste? Eine schreckliche Vorstellung. 

Man mag nun einwenden, dass es um das Wohl des Kindes geht. Dass es darum geht, ihm bestmögliche Bedingungen für eine gesunde Entwicklung zu bieten. Bestmöglich kann mit nahezu perfekt umschrieben werden. Wollen wir denn nicht das Beste für das Kind? Wo ist da der Unterschied? Geht es hier um Wortklauberei?

 

Eine Frage der Haltung 

Für mich geht es keineswegs um Wortklauberei oder um ein Detail in der Unterscheidung. Es geht um etwas ganz Zentrales: 

Es geht um die Haltung gegenüber einem Mitmenschen! 

Es geht um die Haltung gegenüber Frauen, die aufgrund einer schwierigen Lebenssituation darauf angewiesen sind, sich in eine fremde Struktur einzufügen und Hilfe von Fachpersonen anzunehmen. Niemand kommt aus reiner Freude ins Elim. Ausgangslage ist immer eine Drucksituation oder eine Notlage. Ambulante 

Hilfestellungen haben sich als ungenügend erwiesen, so dass die Frau ihr vertrautes Umfeld verlassen musste. Manchmal wird von aussen Druck aufgesetzt und manchmal macht das Leben Druck. Schwierige Umstände und Konflikte. Es kann sein, dass die Frau und ihr Kind in ihrem Umfeld nicht mehr sicher sind. Nicht selten ist der Eintritt ins Mutterkind-Haus für die Mutter gar die einzige Möglichkeit, um nicht von ihrem Kind getrennt zu werden. Sie hat ihre Selbstständigkeit verloren und hat Angst, ihr Kind zu verlieren. Für sie geht es im Aufenthalt im Elim um die kostbarsten Dinge in ihrem Leben. Sie verdient, dass ihr mit einer Haltung begegnet wird, welche nicht noch zusätzlich Druck und Angst macht, sondern Wertschätzung, Sicherheit und Perspektive vermittelt. So ist zum Beispiel eine Haltung in der Stiftung Elim Emmental, dass die Mutter die Expertin für ihr Kind ist. Selbst wenn sie noch vieles lernen muss. Wir entscheiden uns, ihr so zu begegnen, dass sie die Expertin ihres Kindes ist. Erst auf dieser Grundhaltung kann ein konstruktiver Lernprozess stattfinden. 

Zwei Punkte sind mir in diesem Zusammenhang wichtig: 

  • a)  Haltungen sind im Betreuungsalltag grund- legend. Die beste Methodik und das beste Fachwissen sind in der sozialen Arbeit nutzlos, wenn die Haltung nicht stimmt. Der Punkt ist, dass Haltungen oft unbewusst eingenommen werden. Es ist deshalb wichtig die eigenen Haltungen zu kennen und sie bewusst zu hinterfragen.
  • b)  Soziale Arbeit findet innerhalb verschiedener Interessen und Absichten statt. Zwischen diesen Polen bilden sich Spannungsfelder, die nur dann konstruktiv genutzt werden können, wenn man sich ihrer bewusst ist. Professionelles Handeln heisst, dass man seine Interventionen und Hilfestellungen innerhalb der Spannungsfelder bewusst und gezielt einsetzt.
 

Spannungsfelder im Betreuungsalltag 

Im Rahmen des Teamentwicklungs- projektes 2015 haben wir uns mit dieser Thematik eingehend beschäftigt. Es ging um eine Auseinandersetzung mit unserem Auftrag unter Beachtung der verschiedenen Teilinteressen bzw. Absichten unserer Arbeit (siehe nebenan). In dieser Darstellung werden jeweils zwei dieser Absichten einander gegenübergestellt: Der Auftrag der Stiftung Elim Emmental beinhaltet die Sicherstellung des Kindeswohls (1). Er umfasst aber auch die Absicht, dass die Mutter gefördert wird (2). Oftmals ist die Entlastung der Mutter ein wichtiges Anliegen (3). Im Interesse der Zukunftsplanung hingegen soll ein möglichst hoher Realitätsbezug hergestellt werden (4). Jeweils zwei dieser Absichten bilden Pole eines Spannungsfeldes, in welchem das Betreuungshandeln stattfindet. Das dritte Spannungsfeld bildet sich zwischen zwei abstrakten Parametern, an welchen wir Beurteilungen vornehmen und Anweisungen ableiten (5) & (6). Das Beispiel der Ernährung ist plakativ gewählt. Das Spannungsfeld zwischen „Idealzustand“ und „gut genug“ funktioniert in allen Beurteilungsthemen. Das letzte Spannungsfeld in dieser Darstellung ergibt sich zwischen den Bedürfnissen des Individuums (7) und den Rahmenbedingungen der Institution (8).  (siehe Grafik unten)

Es ist augenfällig, dass die verschiedenen Pole nicht grundsätzlich widersprüchlicher Art sind: Sich auf das Wohl des Kindes zu fokussieren, stellt keinen Widerspruch dar, darauf bedacht zu sein, die Mutter zu befähigen. Entlastung für die Mutter zu bieten, schliesst auch nicht aus, dass ein Realitätsbezug hergestellt wird, welcher die Mutter auf ihre Lebensrealität nach dem Elim vorbereiten hilft. 

Trotzdem merken wir im Alltag, dass sich diese Anliegen in der Umsetzung nicht selten in die Quere kommen. Wenn wir beobachten, dass eine Mutter ihrem Kind die nötige Versorgung nicht zukommen lässt, ist es naheliegend, dies anstelle der Mutter selbst zu übernehmen. Es könnte 

auch sein, dass der Fachperson etwas einfacher fällt als der Mutter, oder dass die Rolle so interpretiert wird, dafür da zu sein, um der Mutter Dinge abzunehmen. Die gut gemeinten Bemühungen des Fachpersonals um das Wohl des Kindes können durchaus zum Nachteil der Mutter geschehen. Dann nämlich, wenn deren Rolle geschwächt wird, die Beziehung zwischen Mutter und Kind konkurrenziert wird oder die Mutter um die Möglichkeit von Lernschritten und Erfolgserlebnissen gebracht wird. Egal aus welchen Gründen: Wenn die Fachperson die Rolle der Mutter ausfüllt, nimmt sie ihr den Raum weg, der ihr zustehen würde. 

Es geht also darum, im Betreuungshandeln beide Aspekte des Spannungsfeldes im Auge zu behalten. Eine Hilfestellung sollte so gestaltet sein, dass sie beiden Interessen gerechtwird.Diesistnichtimmermöglich. In diesen Fällen gilt es, sich bewusst zu sein, an dem einen oder anderen Punkt Abstriche zu machen. Wenn mir bewusst ist, welchen Interessen ich nicht gerecht werde, verhalte ich mich achtsamer und respektvoller. Dies wirkt sich positiv und wertschätzend aus, selbst dann, wenn ich eine für die Mutter unbequeme Intervention tätigen muss. 

 

Ein unbequemer Stuhl 

Neulich sass ich unbequem in starker Rücklage und mit offenem Mund auf dem Zahnarztstuhl. Ich war dem Zahnarzt gewissermassen ausgeliefert. Es gilt zu erwähnen, dass ich mich freiwillig auf diesen Stuhl gesetzt habe. Es versteht sich aber auch von selbst, dass ich mich niemals aus purer Freude in diese Lage begeben würde. Eine doppelte Tatsache, die auch für die Frauen im Elim gilt. Drei Dinge waren mir enorm hilfreich in dieser unangenehmen Situation auf dem unbequemen Stuhl: 

a) Ich wusste, weshalb ich beim Zahnarzt bin. 

b) Ich vertraute dem Zahnarzt und seiner Fachlichkeit. 

c) Der Zahnarzt erklärte mir ausführlich sein Handeln und warnte mich vor, wenn Schmerzen zu erwarten waren. 

Obwohl die Behandlung beim Zahnarzt äusserst unangenehm war, fühlte ich mich von ihm ernst genommen und nicht auf ein Objekt seiner Arbeit reduziert. 

Natürlich kann das Elim nicht wie ein Zahnarzt innerhalb einer Stunde eine Behandlung für das vorliegende Problem anbieten. Eine Behandlung wäre der falsche Ansatz. Im Elim erhält eine Frau Impulse, Anregung, Hilfestellungen und wo nötig Korrekturen. Dies über längere Zeit. Die Frau kann auch nicht auf einem Stuhl sitzen und die Veränderung über sich ergehen lassen. Sie übernimmt aktiv die Verantwortung für ihren Lernprozess. Trotzdem ist ein Vergleich hinsichtlich der oben genannten drei Punkte nicht falsch: Auch im Elim ist es grundlegend, dass eine Frau versteht, weshalb sie auf Unter- stützung angewiesen ist. Zweitens ist es wichtig, dass sie den Betreuungspersonen und deren Fachlichkeit vertraut. Und drittens ist wichtig und wertschätzend, wenn ihr erklärt wird, aus welchen Gründen welche Handlungen vorgenommen werden. 

 

Bewusst handeln, transparent erläutern 

Es ist unser Anspruch, Betreuung und Förderung innerhalb der Spannungsfelder bewusst zu gestalten und mit der Mutter ehrlich darüber zu sprechen. So wie es der Zahnarzt bei mir getan hat, als er mir die Behandlung vorgängig erklärte und mich warnte, als er mit dem Bohrer in die Nähe des Nerves vordrang. Bei massiven Interventionen ist die Transparenz im Gespräch unerlässlich, damit die Mutter die Legitimation einer Einschränkung verstehen kann. 

Ohne dieses Bewusstsein laufe ich Gefahr, dass mein Handeln übergriffig und missbräuchlich ist, selbst wenn es harmlos daher kommt und gut gemeint ist. Wenn ich mir nicht bewusst bin, wodurch meine Handlungen legitimiert sind, kann dies zur Folge haben, dass der Lernprozess einer Frau blockiert wird oder dass ich eine Eskalation provoziere. 

Professionelles Handeln zeichnet sich dadurch aus, sich der Spannungsfelder bewusst zu sein. Die Interventionen sind sorgsam und respektvoll gewählt. Einschränkungen müssen immer eine Legitimation haben. Sei dies rechtlich, fachlich oder konzeptuell. 

 

Die Entenfamilie 

Zur Veranschaulichung dieser Thematik haben wir uns in der Teamsequenz einer Aufgabe gestellt. Eine Entenfamilie aus Plastik wurde auf einem aufgespannten Tuch von dem einen zum anderen Tischende getragen. Damit dieses Unterfangen gelingen kann, ist es wichtig, dass das Tuch an allen Ecken gleichermassen gehalten wird. Erst durch das Ziehen an den Ecken in gegen- teilige Richtungen entsteht eine tragfähige Ebene. Wenn eine Ecke vernachlässigt wird, fällt die Ente runter. Trotz widersprüchlichen Kräften bleibt auf dem Tuch die Bewegungsfreiheit für die Ente bestehen. Es wird nicht an ihr gezerrt, wie wenn sie an der Schnur über den Tisch gerissen wird. Wenn wir den Weg wählen, mittels aufgespanntem Tuch die Ente zu begleiten, ist Teamarbeit erforderlich und: Der Blick muss immer auf die Ente gerichtet sein und nicht auf das Tuch! Auch dies ein starkes Bild für die Betreuungsarbeit mit Menschen, welches uns zu einem ganz typischen Spannungsfeld in der stationären Betreuung führt. Demjenigen zwischen Ente und Tuch bzw. zwischen Individuum (7) und Institution (8). 

 

Guter Kaffee aus einer guten Tasse 

Das Betreuungsangebot der Stiftung Elim Emmental findet innerhalb institutioneller Rahmenbedingungen statt. Trotzdem ist es unser Anliegen, auf die indi- viduellen Bedürfnisse von Mutter und Kind einzugehen. Schliesslich geht es um die Ente und nicht um das Tuch. Wichtig sind in diesem Spannungsfeld zwei Haltungen: 

a) Der Mensch ist immer wichtiger als die Institution. 

b) Strukturen und Regeln dienen dem Menschen und nicht der Mensch den Strukturen und Regeln. 

Aufgrund dieser Haltungen könnte man sich Sorgen um die Institution machen. Man könnte daraus schliessen, dass jeder tun kann was er will. Ich habe gelernt, dass Institutionen und Strukturen nicht so schnell untergehen. Das Gegenteil ist der Fall. Manchmal sind Strukturen zum Selbstzweck geworden, und es braucht jemanden, der sie hinterfragt. Nur weil ich sage, dass der Kaffee wichtiger ist als die Kaffeetasse, kommt es mir nicht in den Sinn, den Kaffee ohne Tasse zu trinken. Kaffee schmeckt am Besten aus einer guten Tasse. Lieber aber trinke ich Kaffee aus dem Becher, als dass ich eine leere Tasse in den Händen halte, und sei sie noch so edel. So soll auch die Betreuungsarbeit der Stiftung Elim Emmental sein: Die Entwicklungsprozesse der Betroffenen werden durch hilfreiche Strukturen begünstigt. 

Gut genug ist perfekt! 

Eingangs habe ich ausgeführt, dass das Bild der perfekten Mutter im Elim als Zielhilfe bewusst abgelehnt wird. Jesper Juul, der international bekannte dänische Familientherapeut und Pädagoge, schlägt in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen für 2016 ein europaweites Eltern-Motto vor: „Good enough is the new perfect!“ Er drückt damit aus, was auch uns als Orientierung dient: Eltern müssen nicht perfekt sein. 

Gut genug reicht aus. Gut genug ist perfekt! 

Was heisst dies für die Arbeit im Mutterkind-Haus? Kann es sein, dass sich eine professionelle Institution am Minimum orientiert? Müsste nicht davon ausgegangen werden, dass sich das Mutterkind-Haus in der Betreuung und Förderung der Kinder am Idealbild orientiert und nicht nur am „gut genug“? 

Hierbei kommt der Punkt der Haltung ins Spiel. Wenn wir von der Mutter die perfekte Versorgung und Erziehung für ihr Kind einfordern, könnte sie nur versagen. Wir würden uns von Misstrauen leiten lassen. Es wäre Ausdruck der fatalen Annahme, dass die Mutter nicht das Beste für ihr Kind möchte. 

Um hier nichts zu beschönigen: Nicht selten beobachten wir im Alltag, dass eine Mutter Entscheide fällt oder Handlungen tätigt, die nicht dem Wohl des Kindes dienen. Auch diese Beobachtungen dürfen uns nicht dazu verleiten, davon auszugehen, dass die Mutter es nicht gut mit ihrem Kind meint. Wenn wir innerlich an diesen Punkt gelangen würden, hätten wir eine Haltung gegenüber der Mutter eingenommen, die es unmöglich macht, sie überhaupt noch zu unterstützen. Es wäre in diesem Fall besser, sie würde anderswo Unterstützung suchen. Man stelle sich vor, bei einem Fahrlehrer Fahrstunden zu nehmen, welcher denkt, dass man die Prüfung gar nicht bestehen kann und will. Schnellst- möglich müsste man sich einen neuen Fahrlehrer suchen. Oder besser noch: Der Fahrlehrer müsste sich eine andere Arbeit suchen oder seine Haltung revidieren. Der Punkt ist: Wir wollen immer davon ausgehen, dass die Mutter das Beste für ihr Kind will und ist! 

Diese Haltung muss sich eine Mutter nicht verdienen. Es ist die Ausgangslage, um sie begleiten zu können. 

 

Die Bedürfnisse des Kindes kennen 

Damit das Kind bestmöglich versorgt wird, ist es oftmals nötig, der Mutter aufzuzeigen, was das Kind braucht und was seine Entwicklungsbedürfnisse sind. Wenn es uns gelingt, die Mutter für die Bedürfnisse ihres Kindes zu sensibilisieren, wird sie sich nicht am Minimum orientieren. Oft kommt es vor, dass eine Mutter nicht von sich aus erkennt, was ihr Kind benötigt. Noch nie aber habe ich erlebt, dass eine Mutter nur das Minimum für ihr Kind wollte. 

Jede Mutter will das Beste für ihr Kind! 

Aus diesem Grund brauchen wir das Bild der perfekten Mutter nicht. Gut genug gibt eine Grenze an. Die Grenze nach unten. Es darf nicht weniger sein als gut genug. Nach oben steht es der Mutter frei, die Mutter zu sein, die sie sein kann und sein möchte. 

(Daniel Berger, Juni 2016)

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