Kindesschutz zwischen Freiwilligkeit und Zwang
Kindesschutz zwischen Freiwilligkeit u Zwang

Im Gespräch mit interessierten Personen wird oftmals die Frage gestellt, ob die Mütter mit ihren Kindern freiwillig im Elim sind. Was nach einer einfachen Frage tönt, lässt sich nur ungenau mit ja oder nein beantworten. Um diese Frage zu beantworten muss ich jeweils etwas ausholen. Ums vorweg zu nehmen: Formaljuristisch sind die Frauen immer freiwillig bei uns. Trotzdem wird durch diese Antwort der komplexe Sachverhalt zu sehr verkürzt. Denn obwohl jede Frau freiwillig im Elim ist, ist sie nur deshalb bei uns, weil sie es muss. Freiwillig, um nicht vom Kind getrennt zu werden. Freiwillig, weil keine andere Lösung mehr bleibt.  

Ausgangslage für einen Eintritt im Mutterkind-Haus ist immer eine Druck- oder Notsituation mit einer nicht unerheblichen Vorgeschichte. Die Absicht ist in jedem Fall, dass durch den Aufenthalt im Mutterkind-Haus eine Gefährdung des Kindes abgewiesen werden soll. Manchmal ist die Gefährdung bereits aktuell, manchmal spricht man von einer drohenden oder möglichen Gefährdung. In allen Fällen bei denen es zu einem Eintritt ins Mutterkind-Haus kommt, sind Fachleute der Meinung, dass ein stationärer Aufenthalt nötig ist, um dem Kind genügend Schutz, Versorgung und/oder Förderung zukommen zu lassen. Diese Einschätzung beinhaltet auch, dass niederschwellige Hilfen gescheitert sind oder von vornherein als ungeeignet angesehen werden. Nicht selten hat die Vorgeschichte gezeigt, dass ambulante familienergänzende Hilfen zu wenig Unterstützung oder Entlastung bieten konnten.

 

Zuordnung nach Lüttringhaus und Streich

Maria Lüttringhaus und Angelika Streich von der Universität Duisburg-Essen haben 2007 ein Modell veröffentlicht, welches aufzeigt, dass Kinder- und Jugendschutz sich immer auf der Achse von Freiwilligkeit und Zwangskontkakt positioniert. Was für Deutschland  gilt, kann weitgehend auch auf die Schweiz übertragen werden. Lüttringhaus und Streich zeigen auf, dass eine schnelle und zutreffende Falleinordnung von grosser Bedeutung ist (allen Fachpersonen ist die Lektüre dringend  zu empfehlen*). In den Ausführungen werden zur Falleinordnung drei Bereiche beschrieben: Der Leistungsbereich, der Graubereich und der Gefährdungsbereich. Die Unterstützung im Leistungsbereich findet auf freiwilliger Basis statt und kann sich vollumfänglich am Willen und den Zielen der Betroffenen orientieren. Unter dem Gefährdungsbereich werden all diese Fälle eingeordnet, die eine Intervention erfordern, damit eine bestehende Kindeswohlgefährdung
abgewendet werden kann. In den Graubereich fallen diejenigen Fälle, bei welchen die Klärung einer möglichen Kindeswohlgefördung nötig ist oder man eine anbahnende Gefährdung abwenden will.

 

 

Einsicht als Grundlage

Fast ausnahmslos alle Fälle in den Mutterkind-Häusern der Stiftung Elim Emmental müssen nach dieser Fallzuordnung entweder im Grau- oder im Gefährdungsbereich eingeordnet werden. Der Zwang, als etwas von aussen verordnetes, schwingt immer mit. Manchmal ist er Teil des Settings. Zum Beispiel dann, wenn durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) eine Verfügung vorliegt. Eine Weisung etwa oder der Entzug des Aufenthaltbestimmungsrechtes mit gleichzeitiger Platzierung des Kindes im Elim. Manchmal kämpfen Frauen gegen diese Verfügungen. Sie empfinden diese als unangemessen oder gar falsch. Sie sind nur deshalb im Elim, um nicht von ihrem Kind getrennt zu werden. Die Gründe der Gefährdung sehen sie nicht und die Hilfestellungen nehmen sie als Zwang oder gar als Schikane wahr.  Andere Frauen sind dankbar, dass Behörden und Mandatsträger ihnen Hilfe und Schutz gewähren. Sie nehmen die Verfügung in Kauf, weil sie erkennen, dass dadurch Stabilität und Hilfe möglich wird. 

Wir stellen fest: Je nach Sichtweise ändert das Empfinden der betroffenen Frauen grundlegend. Die Frage, ob eine Klientin den Aufenthalt im Mutterkind-Haus als Zwang oder als freiwillige Unterstützung empfindet, hat mit ihrer Einsicht zu tun. Einsicht, ein unangenehmes und unpopuläres Wort. Eines welches man vermeiden möchte, weil es von den Defiziten ausgeht. Von dem, was nicht ist. Wenn die Einsicht aber nicht einfach nur einen Zustand beschreibt, sondern als Anfangspunkt einer Reise genommen wird, verliert  das Wort seinen lähmenden Charakter. Wo sonst, sollen Lösungsansätze festgebunden werden, wenn nicht an der Einsicht des Betroffenen? Es wird klar, dass ein Entwicklungsprozess nur mit Einsicht bewusst angegangen werden kann. Für uns heisst dies, dass wir präzise Einschätzungen vornehmen und diese transparent und verständlich vermitteln müssen. 

 

Kooperation als Schlüssel

Eine zweite Grafik von Streich/Lüttringhaus macht deutlich wie wichtig die Kooperation der Mutter ist, wenn es darum geht ressorucenorientierte Lösungen zu finden: Die Abklärung des Kooperationswillens ist als erster Schritt in diesem zirkulären Lösungsprozess vorgesehen.

Dass eine Frau mit ihrem Kind den Schritt ins Mutterkind-Haus macht, ist immer Ausdruck einer Form von Kooperation. Sie unterzeichnet im Aufenthaltsvertrag, dass sie freiwillig ins Mutterkind-Haus eingetreten ist. So gesehen lässt sich die Eingangsfrage mit einem Ja beantworten. Ob die Kooperation nur darauf basiert schlimmeres zu vermeiden oder ob sie Ausdruck einer Einsicht ist, zeigt sich oftmals erst im Alltag. Dann nämlich, wenn es darum geht Auflagen zu erfüllen, konkrete Unterstützung anzunehmen, um gemeinsam einen Entwicklungsprozess gestalten zu können.

In den letzten 10 Jahren habe ich mehr als 90 Frauen mit ihren Kindern in der Stiftung Elim Emmental kennen gelernt. Mit Freude kann ich sagen, dass die meisten Klientinnen ihre Ziele zumindest teilweise erreicht haben: Nach wenigen Monaten bis maximal drei Jahren sind sie gemeinsam mit ihrem Kind in die Selbständigkeit ausgetreten. Einige konnten zwar nicht in eine eigene Wohnung ziehen aber zumindest in eine Anschlusslösung wechseln, die deutlich mehr Freiraum bieten konnte. Aber auch sie konnten mit ihrem Kind zusammenbleiben.

 

Nicht gegen sondern für etwas kämpfen

Wenn es gegen den Willen der Mutter zu einer Fremdplatzierung des Kindes kam, dann kämpfte sie meist bereits beim Eintritt ins Mutterkind-Haus gegen das, was ihr durch pädagogische Fachleute oder die Behörde vorgegeben wurde. Ich will hier nicht behaupten Fachleute und Behörden würde keine Fehler machen. Ich will auch nicht sagen die Klientinnen müssten sich alles gefallen lassen. Ich habe schon mehrfach den Rat erteilt, dass Klientinnen sich einen Anwalt suchen sollen, der ihnen hilft ihre Rechtsmittel zu nutzen. Aber selbst dann bleibt folgender Rat noch wichtiger: Kämpfe nicht  zuerst gegen Fachstellen und Behörden, sondern kämpfe für dein Kind. KESB und Mandatsträger werden oft als Bedrohung angesehen. So verständlich dies auch ist, förderlich ist es nie. Wenn die KESB einen Aufenthalt im Mutterkind-Haus unterstützt, ist es hilfreich für die Mutter dies als Chance und nicht als Zwang zu sehen. Eine Frau, die nur den Zwang sieht, wird bestenfalls beweisen, dass die Behörde falsch gelegen hat. Zugleich risikiert sie aber selber das Wichtigste aus den Augen zu verlieren: Das Wohl ihres Kindes.

Vielfach habe ich erlebt, dass Frauen den Aufenthalt im Elim als Chance genutzt haben. Es ist ihnen gelungen das Beste aus einer schwierigen Situation zu machen. Nicht weil sie dazu gezwungen wurden, sondern weil sie sich entschieden haben, selber diesen Weg zu gehen.

Unsere Aufgabe war es sie auf diesem Weg zu begleiten, den Prozess auszugestalten und sie mit Herz und Fachlichkeit zu unterstützen.

Daniel Berger, Juni 2017

 

 

* Lüttringhaus, Maria/Streich, Angelika (2008): Risikoeinschätzung im Team: Keine Zeit? Höchste Zeit! – Das Modell der Kollegialen Kurzberatung zur Risikoeinschätzung und Planung des weiteren Vorgehens. In: EREV Schriftenreihe, 49. Jg., Heft 1/2008, S.39-59, EREV.

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