Der Stein des Anstosses… Auszug aus dem Elim-Jahresbericht 2022
Prellstein

Beatrice Etter, Standortleitung im Elim Steffisburg schreibt über das Spannungsfeld, wenn es darum geht den Klientinnen die Selbstbestimmung zu gewähren und gleichzeitig dem Kindesschutz verpflichtet zu sein.

Vielleicht sind sie Ihnen auch schon mal aufgefallen, die etwas abgerundeten, meist konischen Steinen an Ecken von mittelalterlichen Gebäuden. Oft sind sie aus harten Stein und nicht wie damals üblichen Sandsteins. Die Rede ist vom Prellstein, auch bekannt als Radabweiser, Abweichstein, Radstößer oder Kratzstein. Oder man nannte sie eben auch den „Stein des Anstosses“. Die Redewendung ist natürlich viel älter und geht aus dem Alten Testament hervor. 

Diese Prellsteine oder „Steine des Anstosses“ hatten den Zweck in den damals engen Gassen der mittelalterlichen Städte zu verhindern, dass wenn sich die sperrigen Fuhrwerke kreuzten, sie nicht an den Ecken der Gebäude hängen blieben und diese beschädigten würden. Ohne diese Prellsteine, hätte den Gebäuden innert kürzester Zeit Einsturzgefahr gedroht. Durch die konische Form, wurde auch der Wagen geschützt. Die Radnabe, hätte bei einer Eckkollision unter Umständen grossen Schaden genommen. Kam nun das Rad zu nah an den Eckstein wurde es automatisch „abgewendet“ und zurück auf die Strasse gedrängt, die verwundbare Radnabe wurde verschont. Der „Stein des Anstosses“ erfüllte somit eine doppelte Schutzfunktion und nicht wie in der ursprünglichen Redewendung, dass er zu einem Ärgernis wurde. 

Als mir damals eine Historikerin diesen Zusammenhang erklärte, hat mich diese einfache und doch sehr clevere Idee sehr beeindruckt und dieses Bild blieb mir „hängen.“

Im Eltern-Kind-Bereich wie im Elim, stossen wir manchmal auch auf solche „Steine des Anstosses“. Sie fordern uns auf, etwas Tempo rauszunehmen und die Kurve umsichtig zu nehmen. Sie erfüllen ebenso eine doppelte Schutzfunktion. Sie bremsen uns in der Arbeit etwas aus und geben uns den Anstoss wieder zurück in die Spur zu finden ohne das jemand schaden nimmt. 

Im Eltern-Kind-Bereich wie im Elim, bewegen wir uns in der Betreuung in verschiedenen  Spannungsfelder: Ein solches Spannungsfeld, welches immer wieder zu einem „Stein des Anstosses“ wird, ist der Auftrag, dass das Wohl des Kindes gesichert ist. Wir bewegen uns im Bereich des Kindesschutz. Die Eltern bzw. Mütter wohnen auch im Elim, sie bleiben aktiv in  der Verantwortung um die Sorge und Betreuung ihrer Kinder. Unser Anliegen ist es, sie in ihrem Bestreben nach einem autonomen und selbstbestimmten Leben auf Augenhöhe zu begegnen und sie auf diesem Weg bestmöglich zu unterstützen. Was aber ist, wenn die Eltern andere Vorstellungen davon haben, was das Wohl der Kinder betrifft? Wenn Sie es in Ordnung finden, dass die Wohnung ohne die Kontrolle innert kürzester Zeit zu einer Müllhalde verkommen würde? Wenn sie ihren Kinder zu viel zumuten und ihnen Verantwortung übergeben die sie eigentlich gar noch nicht tragen können? Was wenn kein angemessener Tagesrhythmus den Alltag vorgibt, die Kinder zu wenig Schlaf bekommen oder zu lange vor dem Fernseher sitzen? 

Im Eltern-Kind-Bereich kommt man nicht darum herum, immer wieder eine Abwägung zu machen, wann und wie bei solch unterschiedlichen Vorstellungen, der Sicherung des Kindeswohl, eingegriffen wird. Es muss klar und sehr dezidiert eingegriffen werden, wenn sich eine akute Gefährdung der Kinder abzeichnen würde. Also wenn die Kindern innert kürzester Zeit an Leib und Leben gefährdet wären oder wenn die Eltern die Sicherheit der Kinder nicht mehr gewährleisten können. Die Achtung und der Respekt der Selbstbestimmung der Eltern kann in solchen Situation nicht gewahrt werden, das Wohl des Kindes steht klar darüber. Sind es aber Fragen, welche kurzfristig noch keine Gefährdung darstellen, die Kinder aber längerfristig in der Förderung und ihrer Entwicklung beeinträchtig würden, dann ist es eher eine Frage des Entwicklungsprozesses, dies sowohl bei den Eltern wie den Kindern. Dies am Beispiel des angemessenen Medienkonsums. Hier werden die Eltern mit einbezogen und es findet eine Art „Aushandlung“ statt. Es geht dann um Mitsprache und Mitbestimmung. Im Besten Fall können die Kinder in diesen Lernprozess mit einbezogen werden, so dass eine nachhaltige Veränderung möglich wird. Die Achtung und Wahrung der Selbstbestimmung der Eltern, ist daher als eine innere Haltung in der Begegnung mit den Eltern zu verstehen. Es gibt Bereiche, da braucht es noch ein Entwicklungsprozess, da wird die Selbstbestimmung noch eingeschränkt. Wir sind in der täglichen Arbeit immer wieder angehalten, die Eltern möglichst so zu unterstützen und zu begleiten, dass dieser Schritte in das selbstständige Wohnen und Leben mit ihren Kindern irgendwann möglich wird. 

Diese Spannungsfelder im Eltern-Kind-Bereich, stellen uns vor Herausforderungen. Gelingt es allerdings diese „Steine des Anstosses“ nicht als Ärgernis zu verstehen, (was die ursprüngliche Deutung uns sagt), sondern als umsichtiges Innehalten und Abwägen wie wir gemeinsam diese Kurve oder Hürde meistern können, dann stehen sich die Achtung des Kindswohl und das Bestreben nach einem eingeständigen selbstbestimmten Leben, nicht mehr wie zwei gegenseitige Pole gegenüber, sondern sie sind zwei sich ergänzende Zentren. 

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