«mir schaukled das scho» Auszug aus dem Jahresbericht 2023
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Daniel Berger, Institutionsleiter
Artikel für den Jahresbericht 2023, inspiriert von „Hol de Rum“ aus Sing meinen Song

Kein Auge blieb trocken auf dem Musiker-Sofa. In der beliebten Fernsehsendung «Sing meinen Song – Das Schweizer Tauschkonzert» hat Marius Bear das Lied «Hol de Rum» von Dodo interpretiert. Ein äusserst emotionaler Song übers Abschiednehmen. Auch mich hat das Lied berührt. Marius Bear hat seine eigene Geschichte in das Werk von Dodo reingepackt und es ist ihm eindrücklich gelungen, seine Gefühle damit zu verbinden. Es lohnt sich, das Lied anzuhören. Im Refrain heisst es mit viel Melancholie und Hoffnung «mir schaukled das scho». Wir schaukeln das irgendwie. So könnte man es auf Deutsch übersetzen. Man versteht intuitiv was damit gemeint ist. 

Sing meinen Song, Lied Hol de Rum

Wir kennen sie wohl alle, die Situationen, in denen wir etwas am Schaukeln sind. Schaukeln hat mit Loslassen und Festhalten zu tun. Ähnlich, wie wenn wir ein Kind auf die Schaukel setzen. Wir lassen los, um doch in Kontakt und Kontrolle zu bleiben. Loslassen und festhalten – es gehört immer beides dazu. Wenn man etwas schaukelt, fühlt man sich verantwortlich und hat es doch nicht im Griff. Es gibt Abhängigkeiten und unbekannte Faktoren. In einer Beziehung hat es meist mit der anderen Person, mit Umständen und Gefühlen zu tun.

Etwas schaukeln hat mehr mit dem Leben zu tun, als uns gemeinhin lieb ist. Als Gesellschaft ist es uns gelungen, ein System von Kontrolle und Absicherung aufzubauen. Alles kann geplant, kontrolliert und versichert werden. Aber eben nur scheinbar: In der Realität sieht es anders aus. Alle, die schon einmal einen Schicksalsschlag erlebt haben, wissen wie wenig es braucht, damit die eigene Welt ins Wanken gerät. Eine Diagnose. Ein Todesfall. Eine Trennung. Eine Kündigung. Man kann etwas nicht mehr steuern, deshalb versucht man es zu schaukeln. Dinge zu schaukeln ist meist keine Wahl, sondern eine Lebensrealität. Was hilft, sind Menschen, die zu einem stehen und die Zuversicht, die in der Zeile «mir schaukled das scho», enthalten ist. 

Dinge schaukeln gilt nicht als geeignete Geschäftsstrategie. Ich gebe aber zu: Auch im Elim wird geschaukelt. Dies liegt zuerst am Wesen der Zielgruppe. Wir begleiten Familiensysteme mit hoher Komplexität. Familien, die meist am Schaukeln sind, bevor sie zu uns kommen. Sie sind instabil, manchmal traumatisiert oder zerrissen, nicht selten im Kampfmodus und immer unter Druck. Äussere Faktoren haben das System erschüttert, ein Mangel an Ressourcen oder eigene missglückte Entscheide haben das Gleichgewicht empfindlich gestört. Durch äussere Eingriffe ein komplexes System zu stabilisieren, ist anspruchsvoll. Insbesondere weil es die Selbstbestimmung der Familien zu wahren gilt. Schaukeln hat auch mit Respekt zu tun. Respekt vor dem was ist. Respekt vor der Einmaligkeit einer Mutter/Vater-Kind-Beziehung. Respekt vor dem Lebensentwurf und dem Willen der Menschen. 

Welche Leistung die Teams in den Standorten vollbringen, ist von aussen kaum einzuschätzen. Wieviel Kraft und Ausdauer es braucht, Dinge nicht im Griff zu haben und Situationen im Wechselspiel von Kontakt und Loslassen schaukeln zu lassen, kann nur wissen, wer es selbst aushalten muss. Auch Eltern, deren Kind in der Pubertät ist, kennen es: Loslassen braucht oft mehr Kraft als Festhalten. 

Loslassen heisst auch verantwortungsvoll vertrauen. Wenn ein Kind auf die Schaukel gesetzt wird, gilt es zu vertrauen und doch verantwortlich zu bleiben. Vertrauen darauf, dass das Kind sich selber festhalten kann und dass die Seile und die Schaukel halten. Ohne Vertrauen in die Familiensysteme und deren eigenen Ressourcen, könnten wir unseren Auftrag nicht erfüllen. Diese Tatsache steht oftmals im Kontrast zu den Vorzeichen. Der lösungsorientierte Ansatz (LoA) ist uns da eine Hilfe. Er geht davon aus, dass im Problem bereits die Lösung angelegt ist. LoA geht auch davon aus, dass die Menschen selbst die Experten für ihr Leben sind. Vertrauen heisst, nicht alles besser zu wissen, neugierig bleiben und mit Ratschlägen zurückzuhalten. Es meint Loslassen und doch im Kontakt bleiben. Professionell schaukeln und Raum geben, damit Menschen ihre eigenen Lösungen finden. Hinzu kommt die Kunst, der Schaukel im richtigen Moment  den nötigen Schubs zu geben. Eine Korrektur anzubringen ohne, dass noch mehr Unruhe im System entsteht. 

Die Zielgruppe ist ein Grund, weshalb im Elim Dinge schaukeln. Wenn ich an die Entwicklung der letzten Jahre zurückdenke, gibt es noch andere Gründe. Schaukeln gehört zur Geschichte des Elims. Damit meine ich die Fähigkeit, aus der Komfortzone auszubrechen, loszulassen und Schritte der Entwicklung zu wagen, auch wenn noch nicht alles klar ist. 

Als Leiter der Institution habe ich gelernt, loszulassen. Ohne Vertrauen in die Fähigkeiten der Kita- und Standortleitungen und ihren Teams, könnte ich das Elim nicht führen. Und ohne das Vertrauen, welches mir der Stiftungsrat entgegenbringt, wäre ich nicht handlungsfähig. Das Elim ist auf der Basis von Verantwortungsübernahme und Vertrauen das geworden, was es ist. Mit Beatrice Etter habe ich auf Ebene der Institutionsleitung eine äusserst kompetente und engagierte Verstärkung erhalten. Dies freut mich sehr. Sie trägt das Anliegen der Stiftung mit, geniesst das Vertrauen und den Rückhalt der Teams und versteht es auch, schwierige Situationen respektvoll zu tragen und Lösungen zu finden. Ich bin dankbar, dass im Elim auf allen Ebenen Menschen mit grossem Engagement und herausragenden Fähigkeiten stehen. Menschen mit Geduld, Kraft und Ausdauer. Menschen, denen es gelingt, Dinge zu schaukeln und die den Respekt vor der Einzigartigkeit jeder Familie hochhalten und fähig sind, im richtigen Moment den nötigen Schubs zu geben. Von Herzen möchte ich an dieser Stelle euch allen danken, die ihr im letzten Jahr im Elim mitgewirkt und mitgeschaukelt habt! 

Jahresbericht 2023

Wer das Lied „Hol de Rum“ in der Originalversion von Dodo hört, der hört scheinbar ganz ein anderes Lied als die Version von Marius Bear. Das Original handelt auch vom Loslassen aber tönt leicht und ist von Zuversicht getragen. Tränen werden hier keine vergossen. Tragischerweise habe sich die Hoffnung in der Realität nicht erfüllt, gibt Dodo preis. Sein eigenes Lied, aus dem Mund von Marius Bear, trifft ihn unerwartet tief und heftig. Das Schaukeln sei ihm trotz aller Zuversicht nicht gelungen und eine offene Wunde sei zurückgeblieben. Dass Marius Bear ihm das eigene Lied zurückgegeben habe, sei nun ein Moment der Heilung gewesen. 

Im Jahr 2023 haben wir als Elim neben vielen schönen und erfolgreichen Geschichten auch Enttäuschungen und schwierige Momente erlebt. Obwohl über 90% der Familien den Weg in Eigenständigkeit weitergehen können, bleiben doch immer die einzelnen Geschichten, in denen sich die Realität anders als gewünscht entwickelt hat. Es ist eine Tatsache, dass nicht alle Kinder bei ihren Eltern bleiben können. Dass die Statistik eine positive Bilanz ausweist, hilft den Betroffenen wenig. Für sie mag es sich wie ein Versagen oder einen Verrat anfühlen. Manchmal kommt es zu Schuldzuweisungen und Vorwürfen. Was bleibt sind die Trauer und der Schmerz. Das Kind wird in diesen Fällen in ein sicheres Zuhause in einer Pflegefamilie oder einem Kinderheim vermittelt. Es ist von Menschen umgeben, die mit bestem Wissen und viel Herzblut eine ergänzende Rolle zu den Eltern einnehmen. Die Eltern bleiben auch in dieser Situation die Eltern des Kindes. Sie werden nicht ersetzt. Sie müssen etwas schaukeln, was nicht geplant war. Ihnen wünsche ich Vertrauen, Geduld und heilsame Begegnungen.

An den Zahlen aus der Jahresrechnung 2023 und der Statistik ist unschwer zu erkennen, dass das vergangene Jahr ein äusserst intensives und ausgefülltes Elim-Jahr war. Wir haben total 44 Familiensysteme im stationären Rahmen begleitet. Auch die ambulanten Leistungen haben zugenommen und die Kita in Wasen hat sich gefüllt. 

Mehr Leistung heisst auch immer, personalseitig mitzuwachsen. Wir sind dankbar, dass wir in unseren Teams auf eine ausserordentliche Stabilität und Konstanz zählen können. 

Wer wissen will, was es heisst, im Elim eine Ausbildung zu absolvieren oder im Elim zu arbeiten, findet weiter hinten in der Publikation zwei Berichte: Yaelle Meier schliesst diesen Sommer ihre Ausbildung zur Sozialpädagogin ab. Mirjam Howald ist seit mehr als zwölf Jahren im Elim und war eine Frau der ersten Stunden in Wiedlisbach. Sie hat den Standort wesentlich mitentwickelt und geprägt. Yaelle bleibt uns nach der Ausbildung erhalten, was uns sehr freut. Mirjam zieht weiter, was wir äusserst bedauern. Dass uns beide einen Einblick in ihre Erfahrung geben, ist wertvoll. Vielen Dank! 

Die ausserordentlich hohe Auslastung hat uns auf operativer Ebene gefordert. Die gute Vernetzung mit externen Partnern und der zusätzliche Bezug von Ressourcen half uns, die geforderte Qualität bei höherer Quantität zu halten. Die Scherliau GmbH hat uns kurzfristig und äusserst flexibel während mehr als einem halben Jahr fachkräftig entlastet. Mit der Kita Seestärn von Thun konnte eine neue Zusammenarbeit aufgebaut werden und auch der Vertrag mit der Kita Selveareal wurde verlängert. Die Kita-Plätze ergänzen unser Angebot und wir schätzen die Fachlichkeit und den Austausch. Den Lehrkräften und Schulleitungen der Schulen in Steffisburg, Thun, Wiedlisbach und Wasen gilt unser Dank. Die Volksschule leistet nicht selten mehr als sie müsste. Das Wohlwollen und die Bereitschaft zur Lösungsfindung sind äusserst hilfreich.

Die Vernetzung nimmt eine wichtige Rolle ein, wenn es darum geht, Familiensysteme mit ihren vielschichtigen Bedürfnissen zu begleiten und zu unterstützen. Ich denke an medizinische und therapeutische Ressourcen, an Übersetzungsdienstleistungen, Anbieter in der beruflichen Integration, an die Opferhilfe und weitere Fachstellen. Eine wichtige Rolle nehmen die Behörden und die Mandatsträger ein, welche Beistandschaften führen oder Abklärungen tätigen. Sie sind um Lösungen bemüht, suchen das Beste für die Betroffenen und treffen wichtige Entscheidungen. Auch seitens des Kantonalen Jugendamtes haben wir die nötige Unterstützung erhalten, wenn es darum ging, schwierige Situationen zu bewältigen. Der Dank gilt all diesen Menschen, die in ihrer Funktion das gemeinsame Anliegen des Schutzes der Kinder und der Befähigung der Eltern mittragen und schaukeln helfen. Danke für das Vertrauen, die Verantwortungsübernahme und die gelingende und angenehme Zusammenarbeit!

Der letzte Dank gilt all den Spenderinnen und Spendern. Dass Menschen aus den verschiedensten Regionen der Schweiz die Elim Stiftung für Eltern und Kind finanziell unterstützt haben, ist ein grosses Zeichen der Solidarität mit Familien in schwierigen Situationen und ein Zeichen des Vertrauens. Danke, dass wir auch weiterhin auf euch zählen dürfen!

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