Es ist erst drei Jahre her, seit Martina hier lebte. Wir treffen sie im Elim Wiedlisbach mit ihren zwei Kindern. Das dritte wölbt ihren Bauch unter dem grauen Pullover. Martina wirkt ruhig und gelassen. Sie hört gut zu, passt sich an, öffnet sich, aber nicht zu weit, gibt eher kurze Antworten. Wesenszüge, die sie durchgetragen haben. Sie lebte hier nach der Geburt ihrer Tochter, nachdem ihr älterer Sohn plötzlich weg war, aus dem Nichts, fremdplatziert. Nicht wegen ihr als Mutter, sondern wegen einer psychischen Erkrankung des Vaters, von der Gefahr für die Kinder ausging.
Ihr Mann ist nicht plötzlich anders. Es kommt schleichend, über viele Wochen und Monate hinweg. Bis sein Zustand eine Gefahr wird für die kleine Familie. Martina ist schwanger und hat bereits einen kleinen Sohn. Aber Martina weiss nicht, wo er ist. Unerwartet wurde er ihr weggenommen, fremdplatziert, wohnt vorübergehend bei einer anderen Familie. Zu gross sei die Gefahr, dass der Wohnort des Sohnes zum Vater dringen könnte. Auch das Baby in Martinas Bauch würde fremdplatziert nach der Geburt, ausser sie gehe mit ihr ins Elim. Martina hat keine Wahl. Sie vermisst ihren Sohn. Die Tochter würde sie sich nicht auch nehmen lassen.
Wo ist er? Wann kommt er wieder zurück? Martina steckt im Ungewissen. Nach der Geburt zieht sie mit ihrer kleinen Tochter ins Elim. Sie will, dass auch ihr Sohn schnellstmöglich zu ihr zurückkommen kann. Und lässt sich deshalb auf die Forderungen ein. «Ich wusste, dass ich mich ein Stück weit öffnen muss. Sonst würde es nur noch länger gehen.» Sie passt sich im Elim an, und schon bald finden Treffen mit ihrem Sohn statt. Zuerst nur mit ihr als Mama. Irgendwann durfte auch Papa dabei sein. Zuerst ein bis zwei Stunden. Dann drei bis vier Stunden. Immerhin. Die Familie wächst langsam wieder zusammen. Der Zustand des Vaters stabilisiert sich.
«Es war schwierig für mich, dass ich als Mutter hinterfragt werde.»
«Es war schwierig für mich, dass ich als Mutter hinterfragt werde. Man hat hinterfragt, ob ich mein Kind schützen kann.» Sie findet nicht, dass sie Hilfe braucht. Und gleichzeitig merkt sie, dass ihr die Hilfe im Elim guttut. Sie lässt sich darauf ein. Aber auch deshalb, um möglichst schnell ihre Eigenständigkeit wieder zu bekommen. Es scheint, dass das Martinas grosse Stärke ist: Sie kann sich anpassen und Situationen annehmen, wie sie sind. Martina findet wieder Selbstvertrauen.
Die Treffen mit ihrem Sohn werden häufiger. Irgendwann erfährt Martina, wo er wohnt. Sie darf ihn abholen und mit ihm einige Stunden im Elim verbringen. Zuerst einen Nachmittag. Dann einen ganzen Tag. Irgendwann mit Übernachtung. Dann das ganze Wochenende. Schliesslich darf er zu ihr ins Elim ziehen. Endlich sind sie wieder vereint: Mama, Sohn und Tochter. Der Papa darf sie besuchen, zweimal pro Woche.
Mit der Zeit im Elim räumt Martina alle Zweifel aus, die sich über die letzten Monate aufbauten. Sie hatte in den Geschehnissen begonnen, an sich als Mutter zu zweifeln. Nun beweist sie, auch sich selbst, dass sie das kann. Und nimmt Wichtiges mit für ihr Leben: «Ich habe gelernt, nein zu sagen.» Jeder Mensch hat Grenzen und man darf sie zeigen und auch abstecken. «Das habe ich heute noch, dieses Selbstbewusstsein.»
Plötzlich klingelt Martinas Handy. Sie nimmt den Anruf entgegen, redet kurzangebunden, legt auf und widmet sich wieder unserem Gespräch:
Schritt für Schritt findet die Familie noch mehr zusammen. Sie finden neues Vertrauen: In sich selbst, ineinander und auch in ihr Umfeld. Die ganze Familie verbringt immer mehr Wochenenden im eigenen Zuhause. Der Zustand bleibt stabil. Und schliesslich, nach 9 Monaten, kommt der letzte Schritt: Martina darf mit ihren Kindern nach Hause gehen. Das löst einerseits eine Erleichterung aus, aber auch eine Unsicherheit. Sie schmiedet mit Heidi einen Notfallplan, falls es nicht gut gehen sollte. Doch diesen Plan wird sie nicht brauchen.
Martinas Handy klingelt wieder. Sie antwortet kurz und legt wieder auf. «So, jetzt schalte ich den Ton aus.»