Wir treffen Johanna im Elim im Wasen, 10 Jahre nachdem sie hier durch eine spektakuläre Einweisung gelandet war. Sie trägt einen leuchtend gelben Blazer, wirkt gelöst und zufrieden. Sie lacht im Gespräch über ihre Zeit im Elim immer wieder laut aus, ist reflektiert und scheinbar versöhnt. Sie strahlt eine beeindruckende Lebensfreude und Stärke aus. «Ich bin nicht mehr dieselbe. Heute sehe ich: Meine Zeit hier war keine Strafe, sondern eine Oase!» Aber fangen wir von vorne an:
Johanna hat einen normalen Termin bei ihrem Sozialberater, wie sie schon so viele erlebte. Aber dieser Termin sollte ein Wendepunkt in ihrem Leben sein. Davon ahnt sie an diesem Morgen noch nichts. Anders als sonst führt sie ihr Sozialberater nach der Begrüssung in ein anderes Zimmer. An einem langen Tisch wartet dort ein siebenköpfiges Gremium. Zwei Polizisten sitzen neben dem leeren Stuhl, auf den sie sich überrascht und verunsichert setzt. Das Gespräch verläuft zunächst harmlos. Bis schliesslich der Schock folgt, als der Sozialberater eröffnet: Entweder Johanna geht mit ihrem vier Monate alten Baby sofort für unbestimmte Zeit ins Elim oder es kommt in ein Kinderheim, wird fremdplatziert.
Die Löwin in Johanna ist hellwach: «Das kann nicht sein!» Sie findet, sie brauche weder Hilfe noch Unterstützung. Sie wehrt sich, hat aber keine Chance in diesem klaren Machtverhältnis: Die beiden Polizisten begleiten sie nach Hause, wo sie ihre wichtigsten Sachen in einen Koffer packt. Aus diesem Koffer würde sie fast ein Jahr lang leben. Doch das weiss sie in diesem aufreibenden Moment noch nicht. Das Herz pocht ihr bis in den Hals.
Die folgende Autofahrt im Polizeiauto erscheint Johanna endlos. Aus der Stadt führt die Strasse immer weiter raus aufs Land. Mit jedem Meter brüllt die Löwin in ihr lauter. Sie spürt die Wut und Ohnmacht in ihr brodeln, während Wiesen, Kühe, Wälder, Bauernhöfe an ihr vorbeiziehen.
Endlich hält das Polizeiauto an. Johanna ist angekommen, in ihrem neuen Zuhause auf Zeit. Weit und breit kaum Ablenkung. Von der belebten Stadt in ein schläfriges Dorf. «In der ersten Woche wollte ich mit niemandem reden.» Es fühlt sich an wie ein Gefängnis. Die Löwin in ihr brüllt und knurrt weiterhin wütend. Sie hat kein Verständnis dafür, warum sie und ihr Baby hier sein müssen, getrennt von ihrem Partner und Vater ihres Kindes. Wie konnte es soweit kommen?
Mit 18 Jahren wurde Johanna überraschend schwanger. Ihr Partner war erst 16 Jahre alt. Trotzdem weckte das heranwachsende Baby im Bauch zum ersten Mal die Löwin in ihr. Sie ist selbst ohne Mutter aufgewachsen und wollte es anders machen, für ihr Kind da sein, ihm Liebe und Geborgenheit schenken, dafür kämpfen. So entschieden sich Johanna und der Vater des Kindes für das Baby, für ihre Elternschaft, für die grosse Verantwortung. «Die Entscheidung für das Kind löste eine starke Kraft in mir aus.» Als Kita-Mitarbeiterin wusste sie, was ein Baby braucht. Beide, Mutter und Vater, gaben ihr Bestes. Und doch waren sie als Eltern immer wieder überfordert mit der riesigen Verantwortung für das Kind. Schliesslich löste ein Vorfall grosses Misstrauen beim Sozialberater aus, seine Sorge um das Baby wuchs. Über den Vorfall möchte Johanna nicht genauer sprechen.
Jetzt ist sie hier gelandet, im Elim im Wasen. «Es war ein schwerer Schritt, zu akzeptieren, dass ich als Klientin in einem Eltern-Kind-Haus bin und ich diejenige bin, die Hilfe braucht.» In der klaren Tagesstruktur findet sie aber Tag für Tag mehr zur Ruhe. Mit den anderen Müttern geniesst sie das Zusammensein an Beauty-Abenden und eine rebellische Dynamik: Sie diskutieren viel, hinterfragen Regeln. Das Team der Mitarbeitenden und vor allem Heidi, Johannas Bezugsperson, können dagegenhalten. «Ich brauchte Grenzen. Die hat mir Heidi gesetzt. Das tat mir gut.» Johanna merkt, dass sie diese emotionale Begleitung braucht. Weil die Löwin in ihr eigentlich sehr alleine ist.
Die Fachpersonen im Elim merken schnell, dass Johanna eine kompetente Mutter ist und keine 24-Stunden-Betreuung braucht. So kann sie schon nach drei Monaten in eine eigene Aussenwohnung des Elims weiterziehen und gewinnt ein Stück Eigenständigkeit zurück. Irgendwann sieht sie ihren Aufenthalt im Elim nicht mehr als Strafe, sondern als Ort der Ruhe, als eine Oase zum Erholen. Ein Ort, an dem sie wichtige Dinge fürs Leben lernt. Emotional, aber auch ganz praktisch. «Ich habe hier viele Dinge gelernt, die ich bis heute brauche, die mir damals nicht bewusst waren. Zum Beispiel brauche ich bis heute dieselben Putzlappen wie hier im Elim. Das sind die besten!», Johanna lacht laut.
Nach 10 Monaten kann Johanna mit ihrem Kind ausziehen. Sie fühlt sich emotional stark und zuversichtlich. Die erlernte Struktur nimmt sie mit in ihren Alltag. «Heute liebe ich Struktur. Es hat alles ein System bei mir!» Johanna lebt weiterhin mit ihrem Partner und Vater des Kindes zusammen. Sie beginnen bald, mit schwererziehbaren Jugendlichen zu arbeiten und stossen dort auf offene Herzen. Die Jugendlichen können sich mit Johanna, mit ihrer holprigen Geschichte und ihrer kleinen Familie identifizieren. «Sie liebten unsere Kinder und es tat ihnen gut, gebraucht zu werden und zu merken, dass wir ihnen Verantwortung übergeben, ihnen etwas zutrauen.»
Heute, nochmals einige Jahre später, hat Johanna zwei weitere Kinder mit ihrem Partner und sie leben glücklich zusammen. Johanna ist darüber hinaus Pflegemami von Kindern aus schwierigen familiären Verhältnissen. Die Löwin in ihr lebt. Aber sie ist zur Ruhe gekommen.