Neomi – die Rebellin
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Es ist fast 15 Jahre her, als Neomi das erste Mal hier im Elim im Wasen war. Sie setzt sich auf das Sofa, neben ihren Sohn Joschi. Beide sehen sich im Zimmer um, suchen vertraute Ecken und Erinnerungen. Beide werfen sich während des Gesprächs immer wieder Blicke zu. Als könnten sie ohne Worte miteinander reden. Sie haben zusammen einen weiten Weg geschafft. Etwas mehr als ein Jahr hatten sie hier gewohnt. Wegen Verwahrlosung:

Neomis Mutter kann nicht mehr zuschauen: Sie steht in der Wohnung ihrer 19-jährigen Tochter und macht Fotos. Sie schickt die Bilder des verwahrlosten Zustands der Wohnung an Neomis Betreuerin beim Sozialdienst. Diese reagiert und stellt sie schliesslich vor die Wahl: Entweder sie wähle eine Eltern-Kind-Einrichtung für einen Aufenthalt aus oder Joschi würde fremdplatziert.  

Dieses Ultimatum kommt Neomi bekannt vor. Eigentlich wollte sie das nie wieder erleben, sie wollte nie wieder in ein Heim. Sie wollte sich nie wieder an Regeln halten müssen, die sie nicht versteht. Sie wollte sich nie wieder eingesperrt fühlen. Ihr Vater starb, als sie fünfjährig war. Danach begann sie, ihren Trotz in die Welt zu schreien: Sie rebellierte, provozierte, überging bewusst Grenzen. Ihre Mutter war irgendwann so überfordert, dass sie Neomi vor die Wahl stellte: «Du kannst dir ein Internat aussuchen und dort gehst du hin!» 

Jetzt ist es wieder soweit: Neomi muss mit ihrem Baby in ein Heim! Mit den drückenden Erfahrungen im Hinterkopf macht sie sich mit verschiedenen Eltern-Kind-Einrichtungen be-kannt. Im Elim fühlt sie sich sofort wohl. «Wegen Dani», sagt Neomi im Rückblick, presst ihre Lippen zusammen, hebt die Augenbrauen und nickt überzeugend. Sie kann sich noch gut an das Erstgespräch mit ihm erinnern: «Er hat immer mich direkt gefragt und von mir Antworten hören wollen, nicht von der Betreuerin des Sozialdienstes. Er hat nicht über mich geredet, sondern mit mir.» Deswegen sei für sie sofort klar gewesen, dass sie ins Elim möchte. Widerwillig. Aber selbst gewählt.


«Er hat nicht über mich geredet, sondern mit mir.»

Die rebellischen Adern in Neomi pulsieren weiter, auch im Elim. Sie ist impulsiv, knallt Türen zu und sucht Gerechtigkeit, wo sie keine findet. «Ich habe so viele Fragen gestellt. Auch unbequeme Fragen. Ich wollte provozieren!» Sie fordert klare Meinungen und Haltungen von ihrer Bezugsperson Heidi, stellt ihr ganz persönliche Fragen. Sie fühlt sich in wichtigen Momenten von Heidi ernst genommen, beginnt sie zu respektieren. Ein klares Ziel hilft ihr, sich endlich auf die Zeit im Elim einzulassen: «Ich habe mit Heidi definiert: Ich gehe nicht, bevor ich eine Lehrstelle habe.»

Neben Heidi und Dani ist auch Therese Waber eine wichtige Schlüsselperson für Neomi. «Bei ihr habe ich nicht rebelliert. Sie war die Mama des Hauses. Ich habe mit ihr gekocht und viel von ihr gelernt.» Besonders bewundert hat Neomi die liebevolle Beziehung, die Therese mit ihrem Mann vorlebte. Daraus sind viele Diskussionen entstanden über Beziehungen, über Werte, über Familie. Neomi fühlt sich im Elim nicht wie eine schwierige Klientin, sondern als Teil einer Familie. Sie fasst den Mut, ihre emotionalen Mauern aufzubrechen und beginnt mit einer Psychotherapie. «Das war intensiv. Nach den Therapiestunden war ich immer besonders explosiv.» Sie lernt, mit ihren starken Gefühlen umzugehen, Grenzen zu setzen und durchzuziehen. Der innere Widerstand, die Rebellion weicht einem wachsenden Vertrauen. In sich selbst und in andere.

Das spiegelt sich auch in ihrer Beziehung zu Joschi: Nach Ferien im Tessin entwickelt sich bei Neomi wegen eines Bienenstichs eine Blutvergiftung. Sie liegt nur noch im Bett. Und plötzlich ist Joschi verschwunden. Neomi hat Angst, sucht ihn überall. Bis sie merkt, dass Joschi in ihren Kleiderschrank geschlichen ist. Um ihr nahe zu sein, ohne sie zu wecken. Das berührt die erschöpfte Mutter tief: «Ich habe realisiert, wie sehr ich Joschi liebe. Es war schlimm, als ich dachte, er sei weg. Und ich merkte auch, dass Joschi mich liebt! Dass er bei mir sein möchte und meine Nähe sucht.»

Einerseits fühlt sich Neomi im Elim entlastet, dank der Kinderbetreuung und der Begleitung in ihren Lebensfragen. Andererseits wird sie befähigt, ihr Leben selbst zu meistern. «Das habe ich damals im Moment noch nicht begriffen. Aber heute sehe ich, wie sehr es mir geholfen hat.» Sie habe keine Angst mehr, um Hilfe zu bitten, wenn sie an ihre Grenzen kommt, wenn sich die Mauern wieder aufbauen. 

Hilfe erfährt sie auch auf der Suche nach einer Lehrstelle. Beim Schnuppern kann sie begeistern und schickt ihre schönste Bewerbung ein. Der Chef will sie unbedingt und bietet ihr einen Vertrag an, obwohl er noch nie eine Frau ausgebildet hat. Neomi unterschreibt. Zwei Monate später zieht sie aus dem Elim aus.


«Heute sehe ich, wie sehr es mir geholfen hat.»

«Aus dem Elim ging ich mit gemischten Gefühlen.» Sie freut sich auf das eigenständige Leben, ist aber auch unsicher. «Die Nächte waren das Schwierigste.» Wenn Joschi im Bett ist und schläft, ist niemand mehr da. Neomi muss sich wieder daran gewöhnen, alleine zu sein. «Mit Heidi haben wir Hilfe für die erste Zeit draussen schon vorbereitet, falls es nicht gehen sollte.» Aber es ging. Neomi findet ihren Weg, gemeinsam mit Joschi. Sie lernt ihren heutigen Mann kennen, der viel Ruhe in ihr Leben bringt. «Obwohl er mich manchmal nervt!», witzelt sie mit einem vielsagenden Seitenblick zu Joschi. Ihre rebellische Ader scheint vielleicht noch heute manchmal durch. Aber sanfter.

Nach einer weiteren Ausbildung zur Fachangestellten Betreuung arbeitet Neomi heute als Teamleiterin im Betrieb ihrer Mutter und begleitet Menschen mit Psychiatrieerfahrung. «Ich werde gebraucht, im Privaten wie im Beruflichen.» Das tut ihr sichtlich gut. Und Joschi hat gerade seinen Vertrag für eine Lehrstelle unterschrieben: «Auf ihn bin ich auch sehr stolz!» 

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